Nymphomaniac: Lust und das Reale

Lars von Triers Nymphomaniac isoliert die Lächerlichkeit des menschlichen Sexualwesens in seinen verschiedenen Ausprägungen. Joe und Seligman befinden sich in einer psychoanalytischen Konstellation. Sie liegt, er lässt sie sprechen, um am Filmende die Biographie analytisch zusammenzufassen. Einige Überlegungen:

1. Die Protagonisten zerschellen am lacanschen Realen.
Die Ein- und Ausformungen der Wand zu Beginn des Films entsprechen den Formen einer Vagina. Die szenische Kälte entspricht Joes Beziehung zu Liebesgefühl und Anteilnahme. Es folgt eine Einstellung, die ebenfalls Kälte und Isolation ausdrückt: Joe liegt hilflos am Boden in einer dunkel-farblosen, schwach beleuchteten Passage aus Mauern und Metall. Dann ein Schnitt in die farbig-intellektuelle Flur der Wohnung des Mannes – ein gegensätzliches Paar wird verknüpft und hat eine Gemeinsamkeit: Beide haben keinen Zugang zur ausfüllenden emotionalen Leidenschaft. Joe berichtet ihm von ihren Erfahrungen mit dem Realen im lacanschen Sinne. Seligman ist in der Welt der Literatur bewandert und assoziiert ihre Erzählung mit allegorisierenden Kommentaren. Er interpretiert Joes Biographie nicht wie sie fatalistisch-depressiv, sondern im Gegenteil aufmunternd wertstiftend. Wie das Zusammentreffen der beiden ist die Entjungferung Joes ein Schauspiel der Konfrontation imaginärer Erwartung mit dem Realen. Allerdings ist hier noch Joe diejenige, deren imaginäre Erwartung von der realen Härte traumatisiert wird. Am Ende des Films wird es Seligman sein, dessen Imagination an den von Joe buchstäblich verkörperten Bedingungen zerschellt.

2. Reine Lust führt zu Leere.
Warum macht es die Männer, wenn sie in ihrer geschlechtlichen Körperlichkeit entblößt daliegen, glücklich, Joes erster zu sein? Selbst wenn es so wäre, wären Sie nur eines von vielen der Milliarden Paare, die Sex haben. Das Imaginäre versüßt hier die biologische Neutralität. Diese imaginäre Süße kommt Joe abhanden. Ist Liebe Sex + Eifersucht oder ist Liebe die geheime Zutat zu Sex? Während B letzteres behauptet, wird der Tritonus gespielt. Für Joes Biographie macht das durchaus Sinn, weil sie den Geliebten zuletzt zu töten versucht und sie von allen Geliebten abfällt (oder im Falle Ps diese von ihr) wie Satan vom Himmel. Joe sagt, die Liebe (und spricht damit von der imaginären Süße) sei das, wonach man nicht gefragt hat, das, was zerstöre. Aber die Lust ist letztendlich die Sucht, die alles um sich herum zerstört: „Nymphomania was stubbosness.“ Lust ist im Film am Ende Leere.

3. Joes Vater als Äquivalent zur Symbolischen Ordnung.
Joe entgleitet sowohl eine Imaginäre Ordnung als auch die Symbolische. Ihr Handeln entspricht nicht kulturellen Normen. In diesem Zusammenhang ist folgendes interessant: Der Verfall des Vaters als Repräsentant der Symbolischen Ordnung wird in den Szenen der Krankenhauserinnerung unmittelbar mit der Sexsucht verknüpft. Die egoistisch-empathielose Nymphomanie entspricht einem Bruch mit der kulturellen Ordnung, da sie sämtliche gesellschaftlich-zwischenmenschliche Bindungen destruiert. Joes radikale Desintegration aus der Symbolischen Ordnung wird also im Verfall des Vaters im lacanschen Sinne allegorisiert.

4. Lust ohne Liebe als Objekt klein a.
Zum Ende des ersten Films wird Liebe als Cantus Firmus inszeniert, als die feststehende Melodie in der Mitte, die umspielt wird vom Umsorgenden, genau Wissenden, was man braucht (F – lacansches Mütterliches) und vom Dominierenden, Regelnden (G – lacansches Väterliches). Liebe ist im Film also keineswegs nur ein mütterliches Prinzip der Geborgenheit, sondern ein zusätzliches Prinzip, das Mütterliches und Väterliches verbindet. Kurz darauf bricht diese Idealkonstruktion ein: Joe spürt nichts mehr. Die Sexsüchtige kann keinen Orgasmus mehr bekommen – und Seligman stellt sich als asexuell heraus. Die beiden sind das totale Kontrastpaar, das sich zum Übergang von Teil 1 zu Teil 2 in der Semantik der Lustlosigkeit überschneidet. Die Cantus Firmus ist erstummt. Die Prinzipien des Mütterlichen und Väterlichen greifen ebenfalls nicht mehr in der bisherigen Form. Doch Joe sucht wie besessen weiter nach lustvoller Erfahrung – in radikalen Varianten. Die Lust selbst wird fern aller Liebeskonnotation zum Objekt klein a, es wird nicht über die Lust begehrt, sondern die Lust wird begehrt.

5. Joes pathologisches Verhältnis zum Anderen als fehlgeschlagener Narzissmus.
Joe wird fasziniert von der Vorstellung einer sexuellen Konstellation, in der verbale Auseinandersetzung unmöglich ist. Der Austausch von Signifikanten ist dann unterbunden. Es gibt nur noch nur noch den Bereich von Freuds Es, das Lacan im Schema L dem Subjekt zuschreibt. Das Schema L zeigt die Entfremdung des moi in seiner Beziehung zum Anderen. Signifikanten, die aus dem Bereich des Anderen stammen, sind in jener von Joe gewünschten Konstellation nicht zugänglich, das Andere ist entfernt. Joe wäre in dieser Konstellation also Subjekt, das im Kreis des eigenen Imaginären ausschließlich Lust, keine Disparatheit des Anderen durch andere Subjekte erfährt. Eine sehr narzisstische Konstellation, ein Monolog. Allerdings bringt N seinen Bruder mit – und spricht mit ihm in der fremden Sprache. Das Andere wird dadurch nicht aufgehoben, sondern noch präsenter, da die vielen fremden Signifikanten von Joe nicht interpretiert werden können. Passenderweise haben die beiden anderen Sexualpartner auch eine andere Hautfarbe. Die Situation ist dadurch nicht narzisstisch, sondern entfremdend: „They showed me, that there was a world far from mine.“ Sie sagt, sie muss ihre Welt wiederfinden, indem sie diese fremde Welt exploriert. Ist das paradox? Ist das der Dreh- und Angelpunkt ihrer Pathologie? Jedenfalls sucht sie einen Ort noch viel radikalerer Entfremdung auf: die des Sadisten. Nicht einmal ihr Name (als repräsentativer Signifikant des moi) ist dort relevant, sie bekommt einen neuen Namen zugeteilt. Außerdem gibt es kein Safeword – es gibt also keinen gemeinsamen Signifikanten mit den Anderen, keinen, der ihr einen Eingriff in das Andere erlaubt. Dementsprechend wird sie fixiert. In der Sadismusszene inszeniert sich die absolute Bewegungsunfähigkeit des moi. Das zeigt sich auch darin, dass sie ihr Kind als Bestandteile der für das moi relevanten familiären Einheit alleine lässt – und zuletzt die Familie verlässt, um sich radikal dem Anderen in Form des Sadisten hinzugeben. Die Lust ist nur noch das Andere. Sie verliert sich in der Lust. Gleichzeitig ¬– wie durch den Therapieabbruch klar wird – ist sie ihre Lust, definiert sich darüber. Ihre Pathologie freilich wird in einer extremen Metapher offenbar: Sie blutet aus der Klitoris. Ästhetischer ist die später visualisierte Metapher des verkümmerten, schief gewachsenen Baumes in einsamer Landschaft als Entsprechung ihrer Seele.

6. Die Verwobenheit von histoire und discours.
Im Übrigen ist bemerkenswert, dass die Figuren die Kapiteltitel teilweise selbst benennen, teilweise die Titel sich aber auch aus diversen Umständen ergeben. Die Metaphern aus dem Figurendialog werden zuweilen in die Szenen als Bild oder Sequenz eingeblendet. Histoire (das Erzählte) und discours (die Art der Erzählung) verschmelzen. So kritisiert Joe z. B. den Bergsteigerexkurs als den Schwächsten. Es ist, als ob der Autor werkimmanent sein Werk kritisiert. Das Werk kritisiert gewissermaßen sich selbst.

Nymphomaniac. R.: Lars von Trier. Dänemark/Deutschland/Frankreich/Belgien/UK 2013.

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