The Babadook: Die Unmittelbarkeit des Sinnbildes

The Babadook ist vermutlich der gelungenste Horrorfilm 2014. Er ist zumindest der liebevollste. Er erzählt nämlich von der Liebe einer Mutter zu ihrem Kind und der Liebe vom Kind zur Mutter. Dabei hat er einige Gemeinsamkeiten mit Enemy, denn auch für The Babadook gilt: Der Plot ist eine symbolisch-analogische, stellvertretend-visuell-auditive Übersetzung dessen, was im Unterbewusstsein der Protagonistin vor sich geht. Horrorfilme gruseln uns besonders, wenn sie etwas in der Tiefe der Psyche tangieren, das uns besorgt, in Widerspruch zu unseren bewussten Idealvorstellungen steht. Es ist nicht das gruselige Bild auf der Leinwand, das uns fürchtet, sondern die Identifikation mit dem gruseligen Bild. Jeder Verlust unserer gewollten und gewohnten Alltagsrealität hat etwas Unheimliches. Das Unheimliche ist das, was wir im Verborgenen wünschen und das dennoch hervortritt. Es ist das, was wir kontrollieren wollen, das aber letztlich uns kontrolliert. Insofern ist jeder Horrorfilm eine Metapher für unsere seelischen Unzulänglichkeiten. In den gängigen Genreabkömmlingen ist dieser Umstand in einzelnen Szenen oder Plotstrukturen realisiert: Die Halloween-Reihe beispielsweise steht dafür, dass es Bedrohungen gibt, die man scheinbar niemals überwinden kann, die wie Michael Myers oder Zombies immer wieder auf(er)stehen. Global gesehen ist Michael Myers ein Erdbeben, eine Flutwelle oder ein Flugzeugabsturz. Individuell gesehen ist Michael Myers das dramatische Beziehungsende, der Jobverlust oder auch einfach eine chronische psychische Störung. Und innerpsychisch gesehen – und hier setzt der Horror erst vollständig an – ist Michael Myers ein Symbol unserer Phobien, Entfremdungen, Störungen und Selbstverluste. Ob in Alien, Shining, Die Vögel oder Tanz der Teufel, es geht immer um das Andere, dem wir entrinnen wollen, aber nicht entrinnen können. Filme, die Gleichnisse für das uns unheimliche Andere in uns selbst sind.

The Badabook stellt die Allegorik des Horrorgenres auf ein neues Level. Hier wirken nicht mehr gewisse Umstände oder einzelne Szenen als Äquivalent zu unseren persönlichen Ängsten. Hier gibt es kein Gleichnis, das mittels Interpretation generiert werden kann. Vielmehr visualisiert der gesamte Plot unmittelbar die seelischen Umstände der Protagonistin. Es ist eine Introspektion aus der Sicht des Außens des Zuschauers. Statt der semantischen Übertragung im Sinne der Metapher findet die direkte Inszenierung der inneren Figurenpsyche statt. Die Bilder, die wir sehen, sind keine Sinnbilder im oben beschriebenen klassischen Sinne des Genres, sondern Sinnbilder der psychischen Struktur der Hauptfigur. Es wird also weniger eine tatsächliche Handlung sequenziert als vielmehr eine innerfigürliche Entwicklung. Die erste Szene zeigt das Trauma, auf dem alles weitere basiert: Amelia verliert ihren Mann bei einem Autounfall auf dem Weg ins Krankenhaus zur Geburt ihres Sohnes. Sie fällt daraufhin wortwörtlich in ein schwarzes Loch – und landet in ihrem Bett ein paar Jahre später. Der Film zeigt uns so, dass dieses Trauma unverarbeitet ist, dass sie es verschleppt hat. Der Sohn Samuel hat große Angst vor Monstern, er trifft diverse Vorkehrungen, um sich ihnen gegenüberzustellen. Diese Monster sind aber keine fantastischen Wesen, sondern – ohne dass dieser Umstand im Film expliziert wird – die psychischen Entfremdungen der Mutter ihrem Sohn gegenüber aufgrund des Traumas. Und damit sind wir beim Babadook. Er ist nicht eine fantastische Horrorfigur wie Michael Myers oder die typischen Geister- und Dämonenentitäten, sondern ausschließlich eine Visualisierung dieses unverarbeiteten Traumas. Gute Kunstwerke sind die, die bis in die Details ihre Grundidee ausgearbeitet haben. The Babadook gelingt das. Wenn Samuel in der vierten Filmminute sein erstes Zauberstück aufführt, wird kurz das Cover eines Magierbuches mit der Frage „Do the spirits come back?“ eingeblendet. Der Film drückt den Zuschauer so in den ersten Minuten mit der Nase auf sein eigentliches Thema: dass verdrängte Traumata immer wieder zurückkommen, wenn man sich ihnen nicht stellt, und den Geist der betroffenen Person verzerren. „It doesn’t work, if you don’t look at me“, reklamiert Samuel bezüglich seines scheiternden Zaubertricks. Diese Aussage steht gleichzeitig dafür, dass sich Amelias Problematik nicht ändern wird, solange sie sich nicht ganz ihrem Kind widmet und vom verstorbenen Ehemann ablassen kann. Samuels Probleme in der Schule sind lediglich eine Projektion der eigentlichen Probleme der Mutter. Da der Tod des Mannes mit der Geburt Samuels verknüpft ist, besetzt Amelia unterbewusst Samuel mit dem Tod ihres Mannes und steht dadurch zu ihm in einem Verhältnis emotionaler Kälte und Distanz.

Die zunehmend psychotische Verfassung Amelias entspricht dem Umstand, dass das Trauma des Unfalls, der Geist aus der Vergangenheit, aus der fehlgeschlagenen Verdrängung immer mehr hervorkriecht. Er entstellt zunehmend ihre Selbst- und Weltwahrnehmung, beansprucht ihre Psyche für sich und zersetzt ihre empathischen Möglichkeiten. Ihr Umgang mit Samuel wird immer herzloser. Der Babadook ist ein Teil der Mutter. Deswegen sieht Samuel sich gezwungen, gegen seine eigene Mutter zu kämpfen. Der physische Kampf ist aber ebenfalls lediglich die Visualisierung eines psychischen Kampfes. Letztendlich besiegt Samuel Amelia schließlich nicht durch physische Gewalt, sondern durch bedingungslose Liebe. Er streichelt sie, während sie ihn würgt. Es ist also nicht wirklich ein Sieg über die Mutter, vielmehr eröffnet er ihr durch seine unnachgiebige Liebe ein Portal zur Überwindung der traumatischen Verstrickung: „What was it?“ – „You can’t get rid of the Babadook.“ Amelia kann nun erkennen, dass sie von Geistern aus der Vergangenheit getrieben ist und ihrem unschuldigen Sohn Leid zufügt. Es folgt die Szene, in der sie ihrem verstorbenen Mann gegenübertritt, also ihrem Trauma ins (zerfetzte) Angesicht schaut. Sie schafft es nun endlich, die seelische Katastrophe insofern zu verarbeiten, als sie sich ihr stellt, anstatt sie zu verdrängen. Der Babadook baut sich ein letztes Mal unter lautem Getöse vor ihr auf und sie ruft: „This is my house!“ Dass das Haus als Metapher für die Psyche fungiert, bedarf keiner weiteren Erklärung. Sie regeneriert ihren psychischen Haushalt. Der psychotische Zustand ist überwunden und sie kann die Liebe zu ihrem Sohn ungefiltert zulassen. Ein Trauma kann nicht ungeschehen gemacht werden. Aber es kann bearbeitet werden, so dass es nicht das weitere Leben dominiert. Deswegen existiert der Babadook weiterhin im Keller des Hauses und deswegen schaut Amelia bei dessen Fütterung erschüttert. Es ist zwar nach wie vor ihr Trauma, aber es kontrolliert nicht mehr ihr Leben und insbesondere nicht die Beziehung zu ihrem Sohn. Das mit erregter Stimme besänftigend gesprochene „It’s alright. Sshhh.“ sagt also nicht eine Protagonistin zu einem Fantasiewesen, sondern eine Protagonistin zu sich selbst.

Zum Schluss führt Samuel einen Zaubertrick auf, der an denjenigen anknüpft, der den Film einleitet. Am Anfang scheiterte er, weil Amelia nicht an ihm interessiert war. Diesmal gelingt er, sie schenkt ihm ihre volle Aufmerksamkeit. Das ist möglich, weil der Babadook nur a bad book, eine Narration, ein Hirngespinst ist.

The Babadook. R.: Jennifer Kent. Australien 2014.

12 Antworten

  1. Timur sagt:

    Habe gerade den Film mit meiner Freundin angeschaut. Ein wirkliches Highlight. Und nach diesem Bericht, wurde uns so ebenfalls einiges klar. Danke dafür

  2. Christiane sagt:

    Kann mich Timur nur anschließen.
    bin gestern nach dem Film noch mit einigen Fragen im Kopf rausgegangen.
    nachdem ich jetzt die Interpretation gelesen hab, wird mir alles klarer.

  3. xguit sagt:

    Ich fand den Film total scheiße – nach diesem Aufsatz ist es nun etwas besser, ich bin mir aber nicht sicher ob das nicht überinterpretiert ist.

  4. daniel sagt:

    Vielen Dank für die Erläuterungen. Wenn man selber kleine Kinder hat und als Mann und Vater mitbekommt, wie unglaublich stark Mütter gefordert werden, weit über Ihre Grenzen hinaus, dann bekommt man bei dem Film ein starkes Gefühl von Verständnis für die Protagonistin. In die Szenen bei denen sich Amelia nach schlaflosen Nächten, auf der Couch nur etwas Ruhe wünscht, kann sich wohl jede Mutter hineinversetzen.
    Allein aus dem Blickwinkel betrachtet, die psychischen Anstrengungen einer Mutter unglaublich realistisch darzustellen macht diese Film für mich zu einem Meisterwerk. Die Mutter-Rolle von The Sixt Sense kommt bei Weitem nicht an diese heran.

  5. BenJo sagt:

    Der Film ist wirklich gut gemacht.. ein wahrer Psycho-Thriller im Horror Gewand.
    Ich hatte auch gegen ende des Films einige Fragen worauf ich mir einen Reim machen musste.. Das the Babadook den verstorbenen Ehegatten darstellen soll hatte ich mir auch so gedacht.. Deine Zusammenfassung war trotzdem sehr hilfreich und auch aufschlüssig.. Danke!

  6. Graborgel sagt:

    Genau sowas hab ich mir auch sofort gedacht, dass der Babadook eigentlich nur ihr Trauma darstellt. Nur was ich nicht ganz versteh, warum das mit den Würmern am Ende? Und hat sie das Buch denn selbst geschrieben? Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen =)

    • Schnipsel sagt:

      Naja, der Babadook ist immer noch da. Eingesperrt im Keller des Hauses. Und gelegentlich will er gefüttert werden. Er ist immer noch erschreckend… ist schon gut, ist schon gut, ist schon gut… schhhhhhhh. Aber es ist jetzt nicht mehr so schlimm, er kann nicht mehr heraus.

      Das Buch gibt es nicht. Guck mal bei Minute 12 als die Mutter aus dem Buch vorliest. Als Samuel zusammengekrümmt in ihrem Schoß liegt, sieht man, daß sie ihm aus einem ganz anderen Buch vorliest.

      • zwerg sagt:

        Oh, ok. Ich habe den Film gestern auf AMAZON geschaut und gedacht sie liesst das andere Buch NACH den Babadook vor um ihn wieder zu beruigen.
        Ich selber habe einen 4 Jährigen der zurzeit aufgrund seines außergewöhnlichen verhaltens in div. spezial Kliniken durchgecheckt wird, auch kenne diese endlosen schlaflosen Nächte mit den Schrei Attacken, die Hilflosigkeit und das herab lassende Benehmen der anderen nur zu gut. Sodass ich mich in die Laage der Mutter gut rein versetzen konnte.Auch das Kind fand ich selber nicht so nervig wie meine Freundinnen mit den ich den Film gesehen habe.Danke für diese Erklärung, jetzt verliert der Film etwas von seinen Horror für mich-was gut ist.

  7. keine sagt:

    Es gibt heute viele solche “nervige Kinder” und jedem sollte klar sein, dass dies immer ein Resultat einer schlechten Erziehung ist. In diesem Fall war die Mutter aufgrund ihres Traumas nicht in der Lage. Eigentlich sollten die Eltern sich behandeln lassen, nicht die Kinder..

  8. Andy78 sagt:

    Zu dem durchdachten Text würde ich eine kleine Korrektur empfehlen: Michael wütet in der Halloween- und nicht Helloweenreihe…Aber das nur am Rande….;)

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